Inzwischen werden pro Quartal rund 10 000 Spritzen ausgegeben!
Im Einzugsgebiet von Regensburg leben nach Schätzung von Fachleuten weit mehr als 1000 Menschen, die von gelegentlich bis hin zu regelmäßig und mehrfach am Tag harte Drogen intravenös konsumieren. Regensburg hat als weitaus größte Stadt gesamt Ostbayerns (mehr als 2 Millionen Einwohner in Oberpfalz und Niederbayern) eine sehr starke Anziehungskraft für Drogenkonsumenten, so dass sich eine Drogenszene entwickelt hat, die nach Aussagen der Polizei viel größer ist, als es eigentlich für eine Stadt der Größe Regensburgs zu erwarten wäre.
Die Nähe zu Tschechien und die von dort stattfindende sehr gute Versorgung der
Drogenkonsumenten mit illegalen Drogen spielt hier sicher eine wichtige Rolle.
Das stetige Anwachsen der Drogenproblematik hat schließlich dazu geführt, dass sich in Regensburg alle in der Drogenarbeit tätigen Organisationen zusammengetan haben und begonnen haben, hygienische Materialien an Drogenkonsumenten auszugeben, um schwerwiegende gesundheitliche Schäden zu vermeiden.
Spritzentausch- oder „Safer-Use“-Programme sind neben der Opiat-Substitution ein weltweit anerkanntes Angebot zur Eindämmung der Weiterverbreitung der HIV- und Hepatitis-Infektionen (Effectiveness of sterile needle and syringe programming in reducing HIV/AIDS among injecting drug users. Evidence for action technical papers. ISBN 92 4 159164 1; © World Health Organization 2004).
Es ist eigentlich sehr verwunderlich, dass diese Angebote in Bayern bisher selten sind und in der Regel große Finanzierungsprobleme haben. Im Abschlussbericht „Prävention von Infektionskrankheiten bei injizierenden Drogenkonsumenten in Deutschland. Spritzentauschprogramme und andere Maßnahmen – Eine Bestandsaufnahme“ kommen die Autoren Flöter et al. Ende 2010 zum Ergebnis: „Basierend auf der Einschätzung der befragten Experten aus den Bundesländern wird das Gesamtangebot von „Safer Use“ Maßnahmen mehrheitlich als unzureichend beurteilt. (…) Hinsichtlich der Verfügbarkeit von „Safer Use“ Angeboten existiert ein deutliches Stadt-Land-Gefälle, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Mehrheit
der injizierenden Drogenkonsumenten vermutlich in Ballungszentren lebt. Dennoch
werden von den Experten insbesondere im ländlichen Raum zum Teil deutliche Versorgungsdefizite benannt.“ (Flöter et al., S. 8). Konkret zur Situation von Spritzentauschprogrammen in Bayern kommt der Abschlussbericht zu folgender Aussage: Die Experten aus BY beurteilen die Situation vor dem Hintergrund einer fehlenden flächendeckenden Versorgung in ländlichen Gebieten und mangelnder personeller und finanzieller Ressourcen als „erheblich defizitär“ (Flöter
et al., S. 31).
In Regensburg wurde diese Versorgungslücke seit Anfang 2011 von der Aids-Beratungsstelle in Kooperation mit der Caritas Streetwork geschlossen, als das Spritzentauschprogramm begonnen wurde. Inzwischen hat sich der Kreis der Kooperationspartner ausgeweitet: das Spritzentausch-Projekt in Regensburg wird durchgeführt von der Aids-Beratungsstelle Oberpfalz des BRK in Kooperation mit den Streetworkern der Caritas Suchtambulanz und von Drugstop e.V. Das Projekt wird unterstützt vom Gesundheitsamt Regensburg und inhaltlich begleitet wird es von der
Arbeitsgruppe Illegale Drogen des Suchtarbeitskreises Regensburg.
Projektbeschreibung
Der Ablauf des Spritzentauschs ist seit Anfang unverändert, lediglich das ausgegebene Hygienematerial hat sich im Laufe der Zeit verändert: ein Mitarbeiter der Aids-Beratungsstelle Oberpfalz bringt das Material für den Spritzentausch immer am Donnerstag um kurz vor 16.00 Uhr in die Räume von Drugstop Akut und breitet dort am Tisch die verschiedenen Utensilien aus, um die Drogenkonsumenten in den nächsten 2 Stunden mit Hygienematerial versorgen und bei Bedarf auch beraten zu können.
Von Anfang an war uns bewusst, dass ein einziger Spritzentauschtermin in der Woche mit einer Dauer von 2 Stunden an der Realität vieler Drogenkonsumenten vorbeigeht und daher von vielen nicht genutzt werden kann. Wir waren daher immer bemüht, weitere Tauschmöglichkeiten zu schaffen und so haben sich in den letzten beiden Jahren 2013 und 2014 neben dem regulären Tauschtermin am Donnerstag weitere Spritzentauschmöglichkeiten erfolgreich etabliert, so dass im Moment folgende Situation entstanden ist:
Haupttauschtermin:
- Donnerstag von 16.00 – 18.00 Uhr in den Räumen von Drugstop Akut, Abgabe von Wochenbedarf
Weitere Tauschmöglichkeiten:
- Spritzentausch bei Bedarf zu den normalen Öffnungszeiten (Mo – Fr, 9 – 13 Uhr) in den Räumen der Aids-Beratungsstelle, Abgabe von Wochenbedarf
- Spritzentausch bei Bedarf zu den normalen Öffnungszeiten (Mo – Fr, 13 – 16 Uhr) in den Räumen von Drugstop Akut, Abgabe von Wochenbedarf
- Spritzentausch bei Bedarf über die Streetworker von Caritas und Drugstop auf der Straße, Einzelabgabe
Mit dieser Ausweitung der Spritzentauschmöglichkeiten wollen wir auch den Drogenkonsumenten eine Tauschmöglichkeit bieten, die sich schwer tun, das sehr enge Zeitfenster des Donnerstagtermins zu nutzen.
Folgende Artikel stehen derzeit für Konsumenten zur Abgabe bereit:
- Kombipack, bestehend aus Pumpe 1 ml, Kanüle 0,45 mm x 12 mm und Filter
- Pumpe, 1 ml und 2 ml
- Kanüle 0,30 mm x 12 mm; 0,45 mm x 12 mm; 0,45 mm x 25 mm
- Einzeln verpackte Filter zur hygienisches Filterung
- Alko-Pads zur Desinfektion
- Sterile Löffel
- Ascorbinsäure, 0,5 g einzeln verpackt
- steriles, einzeln verpacktes isotones Wasser
- Heparinsalbe zur Venenpflege
- Venenstauer und Abwurfeimer für gebrauchte Utensilien in Einzelabgabe,
- Papiertaschentücher und Kondome
Im Einzelfall wird auch Wundsalbe und Verbandsmaterial abgegeben, wenn kleinere Verletzungen zu versorgen sind.
Entwicklung Mitte 2011 – Mitte 2015
Die Zahl der Spritzentauschvorgänge sind zu verstehen wie Kundenkontakte und geben natürlich nicht die Zahl der erreichten Drogenkonsumenten wieder, da einzelne Konsumenten den Spritzentausch laufend genutzt haben, andere nur einmal oder wenige Male. Es ist aber davon auszugehen, dass über das Spritzentausprojekt mindestens 300 Drogenkonsumenten mindestens einmal zum Spritzentausch gekommen sind und damit wenigstens dieses eine Mal personalkommunikativ zu Safer Use und Safer Sex beraten und mit Hygieneartikel ausgestattet wurden.
Diese Zahlen belegen eindrucksvoll den Erfolg des Projekts und beweisen, dass eine Präventionsstruktur für Drogenkonsumenten auch in einer eher ländlich strukturierten Region wie der Region Oberpfalz/Niederbayern erfolgreich aufgebaut werden kann.
In den Beratungsgesprächen werden von den Konsumenten häufig Probleme beim Konsum thematisiert, so dass viele Beratungsgespräche über eine risikofreiere Art des Konsums möglich werden. Gespräche über HIV- und Hepatitis C sind an der Tagesordnung – rund die Hälfte unserer Kunden spricht offen an, dass sie Hepatitis-C-infiziert sind, so dass der Infektionsschutz ein allgegenwärtiges Thema ist und mit bereits Infizierten die Möglichkeiten der Therapie diskutiert werden können. HIV-Infektionen sind zum Glück seltener.
Abszesse, offene Wunden und viele weitere „kleinere“ gesundheitliche Probleme gehören ebenfalls zu den alltäglich besprochenen Themen. Der Spritzentausch wird von den Drogenkonsumenten zunehmend als Gelegenheit wahrgenommen, wo sie nicht ihre Sucht thematisieren „müssen“, sondern ihre Sorgen, Probleme und auch Ängste, die im Zusammenhang mit ihrem Konsumverhaltens auftreten, ansprechen „dürfen“ und dabei auch ernst genommen werden. Als es vor zwei Jahren in Regensburg zu Todesfällen aufgrund des Milzbranderregers kam, konnten über den Spritzentausch wichtige Informationen über Schutz, Erstsymptome und medizinische Versorgung im Ernstfall an die Konsumenten weitergegeben werden.
Der Ausstieg aus dem Drogenkonsum wird von den Mitarbeitern im Spritzentauschprojekt nicht eigenmotiviert angesprochen. Das ist auch nicht nötig, denn es gibt so gut wie keinen Kunden, der nicht irgendwann dieses Thema von sich aus anschneidet: das Spritzentauschprojekt darf durchaus als Brücke gesehen werden, über die „nicht an das Hilfesystem angebundene Konsumenten von i.v.-Drogen“ einen Zugang zum Hilfesystem finden können. Mehr als die Hälfte unserer Kunden würden kein herkömmliches Angebot der psychosozialen Suchtberatung nutzen.
Mit dem Spritzentauschprojekt hat die Aids-Beratungsstelle Oberpfalz zusammen mit den kooperierenden Organisationen einen hervorragenden Kontakt und eine Vertrauensbasis zu vielen Mitgliedern der Drogenszene hergestellt, die für den Erfolg von Präventionsarbeit in dieser Zielgruppe unabdingbar ist.
Probleme:
Der Erfolg des Projekts ist zugleich sein großes Problem, denn das abgegebene Material muss natürlich gekauft und bezahlt werden.
Im laufenden Jahr ist mit Ausgaben in Höhe von ca. € 13 000,- zu rechnen, im kommenden Jahr in Höhe von voraussichtlich mehr als € 16 000. Die Psychosoziale Aids-Beratungsstelle Oberpfalz hat als federführende Organisation Materialauswahl, Materialbeschaffung und Finanzierung stellvertretend für alle beteiligten Organisationen (Caritas Streetwork, Drugstop Akut und Psychosozialer Aids-Beratungsstelle) übernommen. In den ersten Jahren des Spritzentauschprojekts konnten über den
Einsatz von Spenden- und Sponsoringmittel die Ausgaben auch ohne gezielte
Gegenfinanzierung gut geschultert werden. Der rapide Anstieg des ausgegebenen
Materials bedeutet aber, dass die Refinanzierung immer schwieriger wird.
Zum Vergleich: eine einzige Hepatitis-C- Infektion verursacht Kosten von mindestens ca. 65 000 Euro pro Behandlung/Heilung, eine HIV-Infektion von ca. 25 000 Euro pro Jahr der Behandlung). Im Vergleich zu diesen Zahlen sind die Ausgaben für das
Hygienematerial sehr moderat und das Spritzentauschprojekt darf sich als extrem
kosteneffizient bezeichnen.